Perfekter Energiefluß

Die Hände sind entspannt, reglos hängen sie an den Gelenken, weiß gepudert wie der Rest der Körper. Auch die Gesichter sind weiß. Ausdruckslose Gesichter, deren Blicke ins Leere gerichtet ist, oder nach innen. Wo weder Hände noch Gesichter Signale geben, da wird der ganze Körper zum Zeichen. Mit ihren weißen, nur mit Tanga-Höschen bekleideten Kör pern zeigten Adriana Kocjian, Stefan Maria Marb (der auch die Choreographie erarbeitet hat), Matthias Renert und Tanja Zgonc das am japanischen Butoh-Tanz orientierte Stück Hong 32. Butoh, der Tanz des ständigen Energieflusses, bei dem Bewegungen nie voll kommen, sondern immer in Entwicklung sein sollen, wurde ab Ende der 5Oer Jahre in Japan entwickelt. Stefan Marb hat ihn bei Ko Murobushi, einem der großen Vertreter des Butoh-Tanzes, kennengelernt. Der Münchner versuchte nun in der Panzerhalle, seine eigene, europäisierte Form von Butoh zu realisieren. Dabei hat er vor allem- mit dem Gegensatz von dynamischer (westlicher) Bewegung und verinnerlichter (östlicher) Gesten gearbeitet. So entstand ein Wechselspiel, bei dem jede Szene voll von kraftvoller Konzentration war. Die vier Tänzer verloten jegliche Individualität, waren wie ichlose Organismen, deren Körper für sich sprachen. Sie .erzeugten Hochspannung durch winzige Veränderungen der Körperhaltung, durch ein leichtes Zittern der Arme und Beine, eine sanfte Woge durch den Rumpf oder eine kleine Halsdrehung. Dann wieder sprangen und rollten sie über den Boden, als würden sie magnetische Kräfte treiben, Die perfekte Entmenschlichung der Bewegung ist Stefan Marb und seinen Tänzern da gelungen.

Der Abend war auch eine Beschreibung des Lebens überhaupt, des Weges zum Alter, zum Tod. Zur Live-Musik von Hubert Bergmann am Piano schlüpften zu Beginn die beiden Frauen in unendlicher Langsamkeit aus weißen Vlies-Hüllen. Sie entdeckten, ertasteten ihre Umgebung mit geschlossenen Augen. Ein dicker Haufen Schiffstaue lag in der Mitte, aus dem sich überraschend am Ende langsam ein alter Mann (Christian Stübner) befreite. Er ließ die vier seelenlosen Gestalten hinter sich liegen und ging davon. Im Gang des Alten zeigte sich noch einmal die Kraft des Butoh: Innere Energie lässt minimale, unspektakuläre Bewegungen groß werden. Als das mystische Seiten- , licht (MichaeI Kunitsch) am Ende erlosch, lagen die vier nackten Körper wie hinge- worfen in der Mitte der Bühne, und es herrschte langes Schweigen, bevor das Publikum wagte, begeistert zu applaudieren.
Brigitte Kramer, Süddeutsche Zeitung vom 5.5. 1993

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Traum-Tänzer
Münchner Panzerhalle: "Hong 32"


Versuche gab es hierzulande schon diverse, sich den japanischen Butoh- Tanz anzuverwandeln. Gelungen ist es jedoch jetzt zum ersten Mal dem Münchner Stefan Maria Marb: "Hong 32" in der Panzerhalle~ der ehemaligen Münchner Funkkaserne ( Domagkstraße 33) war eine poetisch-tänzerische Meditation aus westöstlichem Geist, auf die sich Komponist Hubert Bergmann an seinem verfremdeten Flügel mit großer Sensibilität eingestellt hat. Ungewöhnlich langanhaltender Applaus als Anerkennung für diese Leistung.

Den vorweg in einem Vorraum gezeigten Film von Christian Hilt hätte man sich sparen können. Zu 08/15 die obendrein verschwommene Ansicht von blankem Scheitel, Händen, Fußsohlen, Zehen und Knöcheln. In der geräumigen Halle dann zwei vermummte Mönchsgestalten im Vordergrund auf Sockeln, im Hintergrund zwei weiche weiße Stoffplastiken. Zu einem intensiven instrumentalen Sirren, Flüstern, Atmen, Röcheln beginnen sich die weißen Skulpturen zu bewegen. Eine Hand, ein Arm befreit sich Wie aus einem Kokon. Noch "unfertig" geboren, tasten sich die kopflosen Formen in den Raum, schälen sich aus ihrer Hülle: zwei weibliche Wesen, die die Kutten-Männer nun mühsam und schwankend schultern. Wie ständig wachsende wuchernde Pflanzen legen, schlingen sie sich ihnen um den Hals, um den Oberkörper. Die- Bild-Assoziation bleibt frei: die Vereinigung von Frau und Mann als Tragen und Stützen vielleicht, als schwere Bindung, als Last?

Die Wände glänzen in nächtlichem Blau (Licht: Michael Kunitsch). Bergmanns Flügel ragt auf der Rückwand als riesiges Schattenbild auf. Die vier haben ihre Gewänder abgestreift. Ihre Körper leuchten in einer matten Nacktheit, die nicht entblößt, Im Fortperlen der gamelanartig anmutenden Tastenklänge beginnen sie ihre Traumreise. Jede Bewegung ist eine langsame behutsame Geburt - ist spiritueller Genuss des Werdens.

In heftigem Rollen am Boden scheint dann die Reise einen Höhepunkt erreicht zu haben. Den Gipfel des Lebens? Am Ende gräbt sich eine Gestalt aus einem riesigen wirren Seil-Knäuel im Vordergrund. Ein alter Mann,der langsam-konzentrierten Schritts durch die Zuschauergasse abwandert. Im Hintergrund sinken die vier zu Boden, in Ehrfurcht vor dem Alter, der Weisheit, dem Tod.
Bis auf kleine noch zu korrigierende Stellen haben sich Marb und seine Tänzer
diesen japanischen "Tanz der Finsternis", diese uns so ungewohnte, fast kultische Sprache über Geburt, Sein und Tod, erobert.
Malve Gradinger, Münchner Merkur vom 4.5.1993

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