Atmender
Stein
Es zirpt. Laut und
schneidend. Der Ton bohrt sich in den Kopf, schmerzt.
Man erträgt ihn, weil der Blick auf die Bühne
im Theaterzelt Schloß weit größere
Qualen eröffnet. Zwei Frauen, nackt bis auf einen
Tanga und am ganzen Körper weiß geschminkt,
hängen kopfunter. Vom Boden wächst ihnen ein
Felskoloß entgegen, der statt eines Schattens
einen weißen Sandkreis wirft. Dieses Bild geht
unter die Haut, so wie einige der meisterlich ausgeleuchteten
Szenen im dritten Teil von „Hong 32", dem
I-Ging-Projekt von Stefan Maria Marb. Das chinesische
Orakelbuch, dessen Nummer 32 die Dauer thematisiert,
hat den Tänzer und Choreographen zu einem Zyklus
der Jahreszeiten inspiriert. Auf Winter und Frühling,
die 1993 und 1995 gezeigt wurden, folgt der Sommer,
„Roter Fels" genannt. Wie beim Frühlingsstück
„Blindes Wasser" muß man sich auch
hier von allen wesentlichen Assoziationen zum Thema
verabschieden. Anders aber als bei seinem letzten Stück,
das sich im Kulissenpomp verlor, hat Marb im „Roten
Fels". die Mittel reduziert…..
Am Stärksten ist Marbs Choreographie dann, wenn
er die Mittel des japanischen Tanzes -Mikrobewegungen,
Zeitlupe, Introversion - für seine eigenen körpersprachlichen
Ideen fruchtbar macht. Dann entstehen so eindrucksvolle
Momente wie gleich zu Anfang des in sieben Szenen unterteilten
Stücks: Die beiden Tänzerinnen der sechsköpfigen
Kompanie liegen im (Salz~)Sand auf der Seite, die Beine
angezogen. Wellen rieseln über ihre Rücken,
finden langsam einen gleichmäßigen Rhythmus.
Das scheinen keine Menschen mehr zu sein, aber auch
keine abstrakten Körper ~ atmende Steine vielleicht
Katja Schneider, Süddeutsche
Zeitung vom 30.Mai 1996
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