Ein Essay von Michael Wüst

Meine persönliche Begegnung mit Butoh.

Seitdem ich mit Stefan Marria Marb in der whiteBOX zusammen arbeite – im April 2011 ist mit „Bodymemory“ die siebte Tanzperformance zu sehen – gibt mir Butoh-Tanz, Butoh-Tanztheater, zu denken. Wie kann etwas, das nicht von dieser Welt zu sein scheint, so berühren, so in den Bann schlagen?
Das Butoh-Wesen, der Tänzer, scheint völlig allein zu sein, auch in einer Gruppe von Seinesgleichen. Alles, was dieses Wesen ausmacht, ist sein Prozess. Und es ist, als schauten wir in einen Prozess hinein, der uns normalerweise verborgen ist, so verborgen wie unsere eigene Geburt. Es ist, als schauten wir unter Decken aus Fleisch in die Dunkelheit von Körpern, in denen sich phosphoreszierend etwas windet, was vom Tod kommend zum Leben drängt. Andererseits erscheint auf den gekalkten Gesichtern manchmal ein eigenartiges Grinsen, das dem Leben dieser Welt ungefähr so viel beimisst, wie dem rudernden Flug eines durch die Luft auf eine Hausmauer geworfenen Frosches im gleißenden Sonnenlicht.
Wir, das Publikum sind in der Erregung eines äußersten Voyeurismus. Wir sind außerstande uns zu bewegen, wenn der Tänzer uns näher kommt, als wäre die gleichzeitige Anwesenheit am selben Ort ein Tabubruch. Wir meinen, uns nicht begegnen zu dürfen. Was nicht nötig ist, denn der Tänzer sieht uns nicht, wir sind durch so etwas wie eine zeitliche Verschiebung in unserem Voyeurismus geschützt. Die Betrachtung des Tänzers setzt uns in der Zeit zurück. Der weiß Gekalkte ist die Ankündigung eines, der kommen wird.
Die Begegnung zwischen Publikum und dem Wesen hat auf diese Weise tragische Kraft per se. Der Unbeobachtete, der Tänzer, der nicht weiß, dass er Tänzer ist, verweigert sich allen gängigen, gesellschaftlich erprobten Projektionen von Emotionen. Er stellt eben nichts vor, er ist das Gegenteil eines Schauspielers, nämlich der ideale. Er ist die Urform des Schauspielers, die Erinnye.

Der zweite Tod

Der Psychiater und Philosoph Slavoj Zizek beschäftigt sich in „Der zweite Tod der Oper“ mit dem Verhältnis von physischem und symbolischem Tod. Zizek, prominenter Exeget des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, meditiert in dessen Sinne einen zweiten Tod, den der Sterbende zu passieren hätte. Der physische Tod ist dem Sterbenden sicher, dafür sorgen Natur und Logik. Kulturell abhängig, labil, aber darauf folgend ist der symbolische Tod. De mortuis nihil nisi bene: Die Gesellschaft organisiert mit dem schlechten Gewissen der Überlebenden im Akt der Symbolisierung aufwendig, ehrfürchtig und furchtsam angesichts des obszön pompösen Leichnams die Entlastung des Toten. Am Ende der aus Ahnenfurcht geborenen Rituale steht die Beerdigung in geweihter Erde.
Für diesen Prozess gelten von alters her die Bilder der Passage, der Flussüberquerung, der Astral-Werdung. Es ist wohl interkultureller Konsens, dass ein Konsolidierungs-Prozess stattfinden muss, um dem Toten Frieden zu geben. Das Eintauchen in die Dunkelheit muss sorgfältig arrangiert werden, sonst entstehen herumirrende Untote, wie der fliegende Holländer oder arme Götter die nicht sterben können.
Neben den Untoten der Romantik im Jahrhundert der Psychologie, den Kunsttoten Wagners, stehen nach dem 2. Weltkrieg die Heerscharen der Untoten aus menschlicher Grausamkeit, aus unvorstellbarer Monstrosität. Die Geschändeten des Holocausts, die Schatten von Hiroshima und Nagasaki. Vernichtet zweifach: physisch und symbolisch. Komplettvernichtung.
Hier, am Ende der Moderne entsteht mit Kazuo Ohno der Butohtanz unter den Aschen der Radioaktivität.

Spielorte der Toten. Ballsäle, Wartesäle

Seit den Ballsälen des 19. Jahrhunderts entstehen laufend neue überbaute Formen des Zusammenseins, die zunehmend unbewohnbar, sich dem Prinzip der Passage öffnen. Ambientes sind bevorzugte Treffs für Tote und solche, die es endgültig werden wollen. Man tanzt. „Was soll man machen, wenn man in der Stadt allein sein will? Man geht tanzen.“ (Max Kolpe, Texter von Marlene Dietrich) Für noch zügigeren Durchmarsch empfiehlt sich die `Location´.
Von Vicky Baums „Menschen im Hotel“ führt ein direkter Weg zu Stanley Kubrick´s „Shining“ von Murnaus „Nosferatu“ zu „Titanic“.
Wer kennt nicht das Gefühl, unter Toten zu geweilt zu haben, als man nachts im Wartesaal saß, in den Nächten der 60er Jahre, die noch so leise waren, dass man das Vorrücken des Minutenzeigers hörte? Keiner der Toten sah auf. Nur du.
Was ist das, ein Hotel? Die Zimmernummer sagt es doch. Hier sind Türen zum Jenseits. Hier ist Passage. Hier wohnt der Tod im Handlungsreisenden.
Luxusliner, Ballsäle. Tanzorchester, Totentanz. Pomp de Funebre. Der Kongress tanzt, der Thronfolger ist erschossen.
Tanz ist eine Ausdrucksform des Todes.
Jeder Butohtänzer trägt einen Toten Hiroshimas auf dem Rücken. Er tanzt mit ihm, er setzt ihn auf den Boden, er umarmt ihn und er haucht ihm seinen Atem ein. Er rehabilitiert ihn.

München im März 2011

 

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